Was kann Tagespflege leisten?

Fragen an Mutter und Tochter in der Tagespflege St. Franziskus

Tagespflegeeinrichtungen stellen für pflegebedürftige Senioren eine Möglichkeit dar, Pflege- und Betreuungsangebote zu nutzen, ohne stationär in eine Senioreneinrichtung zu ziehen. Sie bilden damit einen wichtigen Baustein in der Pflegekette, der zwischen der ambulanten Pflege und der stationären Pflege anzusiedeln ist. Dabei umfasst das Angebot von Tagespflegeeinrichtungen nicht nur die notwendigen Pflegeleistungen, sondern auch umfassende Betreuungsangebote, die unter anderem auch die Teilnahme an Festlichkeiten, Ausflügen und vielerlei sonstige Gruppenaktivitäten beinhalten. Auch der therapeutische Aspekt findet in den Tagespflegen starke Beachtung. Ziel ist es, die Selbstständigkeit der Gäste zu fördern und möglichst lange zu erhalten, damit sie auch weiterhin in ihrem Zuhause leben können. Die soziale Interaktion der Gäste untereinander und mit den Mitarbeitern der Einrichtungen wirkt sich nicht nur positiv auf den körperlichen Gesundheitszustand, sondern auch auf die Psyche der Gäste aus. Pflegende Angehörige werden entlastet und erfahren im täglichen Leben notwendige Normalität, durch die sie Kraft schöpfen können.

Tagespflegeeinrichtungen sind in der Regel von Montag bis Freitag in einem Zeitraum von 8 bis 16 Uhr geöffnet. Sie decken damit einen Zeitraum ab, der berufstätigen Angehörigen geregelte Arbeitstage ermöglicht. Am Abend und an den Wochenenden kehren die Gäste in ihre eigene Häuslichkeit zurück.

Die emotionale Hürde pflegebedürftiger Senioren und ihrer Angehörigen, dieses Angebot zu nutzen, ist trotz der nachweislich positiven Effekte hoch. Senioren fühlen sich oft im ersten Moment von ihren Angehörigen in eine Betreuungseinrichtung abgeschoben und Angehörige plagt ein schlechtes Gewissen, weil sie denken, ihre persönlichen Pflichten von Fremden erledigen zu lassen.
Was ist die Tagespflege fähig zu leisten? Wie fühlen sich Senioren in den Einrichtungen und sind die Sorgen und Schuldgefühle von pflegebedürftigen Senioren und Angehörigen begründet? Wir haben Anneliese Gräßer (92 Jahre) befragt, die das Angebot der Tagespflege im Seniorenzentrum St. Franziskus in Selters nutzt. Auch ihre Tochter, Ute Scheid (67 Jahre), stand uns für das Interview zur Verfügung.

Redaktion: Liebe Frau Gräßer, liebe Frau Scheid, Sie wohnen in getrennten Haushalten, rund 40 Minuten voneinander entfernt. Das ist ja schon eine ganze Ecke, die Sie auseinanderwohnen. Wie kann man dabei täglich den Kontakt halten und aufeinander achten?

Scheid: Das geht so klassisch bei uns gar nicht.

Redaktion: Wie sind sie denn auf die Tagespflege gekommen?

Scheid: Da muss ich ausholen: Wir haben zuerst ein paar Veränderungen an meiner Mutter wahrgenommen. Sie ist zunehmend ins Negative abgerutscht und hat auch manchmal Angst bekommen. Mein Bruder und ich mussten dann feststellen, dass es auf diese Art nicht weitergehen kann und sie eine Betreuung braucht. Das hat dann zusätzlich bei meiner Mutter die Angst ausgelöst, abgeschoben zu werden. Als wir von einer Tagespflege in der Nähe hörten, entschieden wir uns dazu, das einfach einmal auszuprobieren. Ich musste durchaus ein wenig Druck ausüben, aber sie hat das dann mitgemacht und zugestimmt, es auszuprobieren. Die erste Tagespflege hat uns nicht so gefallen, aber ich habe dann von der Einrichtung hier gehört und es mir gemeinsam mit meinem Mann angeschaut. Zuerst haben wir uns tatsächlich den stationären Bereich angeschaut und den fanden wir schon sehr schön. Man hat uns dann aber auch die Tagespflege gezeigt und da zu dieser Zeit grade eine Aktionswoche zum Kennenlernen der Tagespflege lief, habe ich das meiner Mutter direkt erzählt. Sie war dann auch gleich neugierig und sagte zu uns: „Ach, das interessiert mich auch mal.“ Während der Aktionswoche stand das gemeinsame Kochen auf dem Plan und da meine Mutter sehr gerne kocht, war sie nach dem Probetag direkt hellauf begeistert.

Gräßer: Ja, ich gehe unheimlich gerne hier hin und es macht halt auch einfach Spaß.

Scheid: Ja, sie ist auch ganz anders seit der Zeit. Total anders.

Redaktion: Wieder positiver?

Scheid: Aber hallo. Absolut.

Redaktion: Was macht Ihnen am meisten Spaß hier, Frau Gräßer?

Gräßer: Der Zusammenhalt mit den Leuten, die kommen. Man ist nicht einsam. Da kommt mal der dazu und mal ein anderer und der Tagesverlauf wird auch prima zusammen bewältigt. Wir machen alles Mögliche und auch vom Kopf her wird man gefordert. Dann ist auch schnell mal Mittag und dann hab ich hier meinen Liegestuhl. Da wird ein bisschen Mittagsschläfchen gemacht und dann ist man wieder frisch und es kann weitergehen. Die Damen schlagen einem dann vor, was man noch alles zusammen machen kann und dann ist auch schnell wieder halb Drei oder halb Vier. Wenn wir dann zusammen Kaffee getrunken haben, ist es Vier und wir fahren heim.

Redaktion: Als Sie zuhause waren, haben Sie da selbst gemerkt, dass es Ihnen nicht gut ging?

Gräßer: Ich will mal sagen: Man ist zuhause eben allein und auch ein bisschen einsam. Man hat seine Arbeit, das ist schon richtig und die macht man ja auch. Aber hier ist es schon ganz was anderes. Hier freut man sich dann drauf, dass mehrere Leute da sind und dass man sich beschäftigen kann. Man kann sich einbringen. Ich helfe gerne in der Küche mit, wenn etwas ist und das macht Spaß. Da hat man das Gefühl, dass man noch ein bisschen gebraucht wird.

Scheid: Ja, man muss auch sagen, dass meine Mutter inzwischen akzeptiert hat, dass sie die Hilfe braucht und seitdem ist es auch leichter für sie geworden, die Hilfe anzunehmen. Da wollte sie am Anfang nicht dran. Dass sie etwas vergesslich ist, ist ja nicht tragisch und sie hat auch ein großes soziales Umfeld. Sie ist ein sehr offener Mensch und hat viele Freundinnen und die Großnichte wohnt auch im Haus. Die ganze Familie hat natürlich ein Auge auf sie. Auch die Nachbarschaft. Das funktioniert so ganz gut. So lange sie so fit ist, ist das alles in Ordnung so. Als der Lockdown war, habe ich befürchtet, dass sie wieder in ein Tief rutscht. Ich bin dann oft zu ihr hingefahren und habe mit ihr geübt und wir haben uns beschäftigt und Spiele zusammen gespielt. Wir haben viel gelacht, aber es war eine große Herausforderung auch für mich. Dann kam aber jede Woche von ihr dieselbe Frage: „Wann machen die wieder auf?“. Nicht wahr? (zur Mutter)

Gräßer: Ja, richtig!

Redaktion: Sie waren schon vor Corona hier?

Gräßer: Ja. Ich bin jetzt ungefähr ein Jahr hier.

Redaktion: Die Tagespflege war wegen Corona lange geschlossen, richtig?

Gräßer: Ja. Fast ein halbes Jahr. Aber ich kann es nur empfehlen. Es tut mir gut!

Scheid: Ja und außerdem muss man sagen, dass alle hier sehr nett sind. Unglaublich nett, das muss ich wirklich sagen. Das ist wirklich toll. Ich habe sogar gesagt, ich würde selber hingehen. Und es ist heute ja so: Ich kann die Mutter nicht nehmen. Ich bin auch keine Pflegerin. Ich kann alles organisieren, aber bei einigen Sachen bin ich dann auch überfordert.

Redaktion: Fehlt einem da manchmal das Handwerkszeug, um mit verschiedenen Situationen umzugehen?

Scheid: Ja, absolut und da ist ja auch eine emotionale Bindung. Wäre die nicht da, wäre einiges vielleicht etwas leichter, aber da man keine Distanz hat, ist vieles auch unglaublich schwer. Wir haben uns auch jetzt entschieden, die Tagespflege einmal in der Woche zu nutzen und wenn das mit dem Virus ein wenig besser wird, hoffen wir, dass sie auch wieder zweimal die Woche gehen kann, wie vor dem Lockdown.

Redaktion: Sind Sie den ganzen Tag hier, Frau Gräßer?

Gräßer: Von Acht bis Vier. Dann bringt uns der Fahrdienst nach Hause.

Redaktion: Merken Sie auch eine deutliche Entlastung, Frau Scheid?

Scheid: Selbstverständlich! Man macht sich ja schon Gedanken, wenn die Mutter alleine zuhause ist. Wenn ich bei ihr bin, kochen wir zusammen und wir gehen auch Laufen. Sie ist ja noch körperlich sehr fit mit ihren 92 Jahren.

Gräßer: Ich mach auch zuhause meine Runden. Ich wohne direkt am Wald und die Leute dort kennen mich. Die sagen dann: „Ach, die Anni ist wieder unterwegs.“

Redaktion: Wie würden Sie die Veränderung durch die Tagespflege beschreiben, Frau Gräßer?

Gräßer: Ich bin zufriedener. Ich leiste noch was. Auch für mich und das ist gut! Ich mag die Leute, die hier sind und auch die Mitarbeiter machen das gut. Die sind für jeden geeignet. Das merkt man.

Scheid: Ich habe auch das Gefühl, dass die hier mit meiner Mutter Spaß haben.

Gräßer: Ja. Einige von den anderen sind vielleicht ein bisschen zurückhaltender als ich. Ich sage das, was ich denke. So bin ich halt. Die sind aber alle super. Mehr kann man nicht sagen.

Redaktion: Hatten Sie schon immer so viel Energie?

Gräßer: (lacht) Jaja. Das muss auch sein!

Redaktion: Was machen Sie, wenn Sie abends von der Tagespflege nach Hause kommen?

Gräßer: Nachmittags machen wir hier mit Kaffee Abschluss. Daheim mache ich mir dann nur noch was Kleines zu Essen. „Was drüber“, wie man hier so sagt. Je nach Hunger und Bedarf.

Redaktion: Aber Sie führen auch noch einen kompletten Haushalt daheim, richtig?

Gräßer: Jaja. Meine Tochter kauft ein und wir kochen dann zusammen auch mal für ein paar Tage vor.

Scheidt: Ja. Sie macht sich auch selbst was Kleines, wenn sie Lust drauf hat. Solange das geht, ist alles gut.

Gräßer: Meine Wohnung kann ich auch noch selber putzen. Meine Tochter und ich machen das Beste draus.

Redaktion: Ich habe ein bisschen rausgehört, dass sich Ihr Verhältnis zueinander wieder verbessert hat, seit die Tagespflege mit dabei ist. Stimmt das?

Scheid: Ja. Das war vorher… ich bin in so eine Depression gerutscht.

Gräßer: Es war angespannt, kann man sagen. (lacht)

Scheid: (lacht) Ja, das ist gelinde ausgedrückt.

Gräßer: Das darf man aber sagen, oder?

Redaktion: Ja, selbstverständlich!

Scheid: Wir haben da auch viel drüber gesprochen und ich habe auch mit ihr besprochen, dass sie – falls sich ihr Gesundheitszustand durch irgendwas verschlechtern sollte – hier stationär untergebracht werden kann. Damit war sie auch einverstanden.

Redaktion: Was denken Sie, hält andere Menschen davon ab, die Tagespflege zu nutzen?

Scheid: Vorurteile! Die Angst abgeschoben zu werden.

Redaktion: Von Seiten der pflegebedürftigen Senioren!

Scheid: Ja.

Redaktion: Was könnte für die Angehörigen ein Grund sein?

Scheid: Schlechtes Gewissen! Das alte Rollenbild ist immer noch so drin.

Redaktion: Man verlangt es also grundsätzlich von sich ab, dass man mit diesen Situationen alleine klarkommen muss? Auch wenn es die vielen Vorteile von Tagespflegen gibt?

Scheid: Das will halt niemand hören. Meine Mutter hat meinen Vater und ihre Mutter gepflegt. Das ist so drin. Meine Mutter hatte auch Panik bekommen, als es sich abzeichnete, dass es bei ihr anders sein könnte. Ich habe ihr gesagt, dass ich alles für sie tun würde, ich aber verschiedene Dinge nicht leisten kann, die sie brauchen wird. Ich kann nicht pflegen. Würde ich es versuchen, würde sie darunter leiden und ich mit ihr.

Redaktion: Viele Menschen denken, die Tagespflege wäre der erste Schritt ins Altersheim.

Scheid: Ja, aber das ist falsch.

Redaktion: Sie soll ja grade dafür sorgen, dass die Menschen länger zuhause bleiben können.

Scheid: Ja, ich würde allen empfehlen, sich erst mal ein Bild von der Tagespflege zu machen, um dieses Vorurteil abzubauen.

Redaktion: Die Tagespflege bietet hierfür auch Schnuppertage an.

Scheid: Genau. So sind wir ja auch hierhergekommen.

Gräßer: Zuhause ist man eben oft alleine. Ich merke auch, dass die anderen, die hier dazu kommen, sagen: „Das war doch heute wieder schön und interessant.“ Man profitiert davon. Das ist ja der Sinn der Sache.

Scheid: Ich muss noch erwähnen: Wir hatten versucht einen Pflegegrad für meine Mutter zu beantragen. Als der Arzt dann kam, war meine Mutter topfit. Es ist sicher für viele auch ein finanzieller Faktor. Wenn man das alleine und ohne Pflegegrad tragen muss, ist das vielleicht auch für einige ein Ausschlusskriterium. Meine Mutter kann es selbst bezahlen, für andere ist das vielleicht ein Problem.

Redaktion: Ja, viele Veränderungen, mit denen man im Alter zu kämpfen hat, sind tagesformabhängig. Wenn man dann grade bei der Begutachtung einen guten Tag hat, kann das natürlich zu einem Ergebnis führen, das nicht der Realität gerecht wird.

Scheid: Ja, natürlich! Wenn es meiner Mutter gut geht, ist sie topfit. Aber es gibt auch dunkle Tage. Sie ist wetterfühlig und hat auch mal Migräne und dann schlägt es genau ins Gegenteil um. Dann vergisst sie mehr, als wenn sie gut drauf ist.

Redaktion: Frau Gräßer, gibt es etwas, was sie in der Tagespflege besonders erfüllt?

Gräßer: Die Hauswirtschaft. Ich war früher Köchin in einer Einrichtung, die für die Kinderlandverschickung tätig war. Das kann ich noch. Nächste Woche wollen wir wieder backen. Da freue ich mich schon drauf. Ich bin hier sehr zufrieden und man wird auch geschätzt. Und das ist im Alter ja auch was! Jeder sagt immer zu mir: „Wie? So alt bist Du schon?“ Da muss man auch mit klarkommen. Meine Freundinnen haben mich hier schon besucht. Ich sag immer zu denen: „Wenn ihr mal soweit seid, dann kommt ihr auch hierhin.“ Ich habe auch eine Freundin, die ist stationär hier. Die hat zu mir gesagt: „Das ist aber schön, dass man dich hier sieht.“ Wenn es bei mir daheim mal nicht mehr so klappt, dann lassen wir uns was anderes einfallen. Ich glaube auch, dass sich die anderen mit mir hier wohlfühlen und mich mögen. Sie können die gerne fragen!

Redaktion: (lacht) Das kann ich bestätigen. Das haben die mir schon gesagt.

Scheid: (lacht) Das war mir klar! Die machen das auch mit viel Leidenschaft!

Gräßer: Ja, das sind Profis. Das merkt man! Ich sehe ja auch selbst, dass es manchmal auch schwierig ist. Wie die dann damit umgehen, da habe ich selbst schon gesagt: Das könnt ich nicht! Es ist halt auch manchmal eine schwierige Angelegenheit, sein Geld so zu verdienen. Aber die Leute muss es geben, sonst wäre ja niemand da, der das macht.

Redaktion: Ja, wir brauchen noch mehr davon.

Gräßer: Eben! Der Tag ist hier ausgefüllt. Man ist auch froh, wenn man abends nach Hause kommt. Dann kann man seine Arbeit machen und man freut sich auch, wenn man wiederkommt. Ich bin zufrieden und fühle mich hier aufgehoben.

Scheid: So soll es sein!

Gräßer: Meine Tochter, mein Sohn und ihre Familien wissen, dass ich hier gut aufgehoben bin und sie sich keine Sorgen machen müssen.

Redaktion: Da es ein besseres Schlusswort gar nicht geben kann, möchte ich mich bei Ihnen beiden für das interessante Gespräch, die persönlichen Einblicke und Ihre Zeit bedanken.

Das Interview führte unser Mitarbeiter Michael Roesler am 16.9.20.

StandortTelefonE-MailXingYouTube